Bragin und Larionov übernehmen

Eigentlich passieren Revolutionen in Russland immer in den Wintermonaten. Nun bahnt sich aber ausgerechnet Anfang Juni eine Personalrochade im russischen Eishockey an, die die sportliche Ausrichtung im Riesenreich über Jahre hinweg prägen wird.

Offiziell ist es noch nicht: Aber die Hinweise verdichten sich, dass die Sbornaja im Juni einen neuen Cheftrainer erhält. Alexei Kudashov, der bislang den Posten inne hat und gleichzeitig auch SKA St. Petersburg als Basisklub der Nationalmannschaft betreut, wird verabschiedet.

Die Entscheidung hat weniger mit seiner Leistung, sondern vielmehr mit
der neuen Ausrichtung beim Vorzeige KHL-Klub zu tun. Denn durch die neue, strenge Gehaltsobergrenze in der Liga setzt St. Petersburg nicht mehr auf große Namen, sondern auf aufstrebende einheimische Talente. Konsequent bemüht sich SKA um die besten Jugendspieler des Landes. Teure Stars wie Nail Yakupov werden dagegen verkauft oder getauscht.

Da trifft es sich gut, dass mit Valeri Bragin seit 28. Januar der aktuelle U-20 Nationaltrainer bei SKA tätig ist. Bisher als Co-Trainer beschäftigt, steigt der bald 64-Jährige Coach nun in der Hierarchie auf und erhält das Vertrauen, gleichzeitig die
Sbornaja für die kommenden olympischen Spiele aufzubauen. An der Praxis der vergangenen Jahre, den Cheftrainer von SKA und den der Nationalmannschaft in einer Person zu vereinen, soll festgehalten werden.

Bragin wird daher wie seine Vorgänger Kudashov, Vorobjev und Znarok mit einer großen Machtfülle ausgestattet. Gleichzeitig bleibt er jedoch eine Marionette der Strippenzieher beim Verband. Sollte es sportlich also nicht laufen, kann diese Machtfülle schnell zum Ballastrucksack werden.

Auf dem Papier erscheint die Personalie Bragin jedoch erst einmal vielversprechend: Denn es gibt weltweit wohl keinen erfolgreichen russischen Eishockeyprofi, den Bragin nicht bereits trainiert hat. Seit zehn Jahren coacht Bragin die U-20 bei allen wichtigen Turnieren und Lehrgängen. Diesen Posten muss er aufgeben, wenn er SKA und die Nationalmannschaft übernimmt.

Sein Nachfolger im Nachwuchs soll mit Igor Larionov eine gleichsam verehrte wie umstrittene russische Legende werden. Denn der zweimalige Olympiasieger, vierfacher Weltmeister und dreifache Stanley Cup-Champion fällt in Russland vor allem als Systemkritiker auf. Angedachte zentrale Aufgaben wie die KHL-Präsidentschaft zu Beginn der Liga hatte Larionov in der Vergangenheit stets abgelehnt.

Nach seiner Karriere baute sich der Professor dagegen ein eigenes Weinunternehmen auf, lebte in Amerika und kritisierte in Interviews den Zustand des russischen Eishockeys. Als Trainer trat er nicht in Erscheinung, bis ihn der Verband überraschend im November 2019 zum Assistenztrainer von Bragin bei der U-20 berief. Auch hier nahm Larionov kein Blatt vor den Mund. Kurz vor der WM im Dezember warf er der russischen Juniorenliga MHL Korruption und verschobene Spiele vor.

Larionov eckt an und ist doch ein so guter Kommunikator und Eishockeyexperte, sodass der Verband ihm nun die Verantwortung übergibt und ihn zum Chef der U-20 Nationalmannschaft beruft.

Mit Igor Larionov und Valeri Bragin auf den wichtigsten Trainerplätzen im Lande schlägt Russland ein neues Eishockey-Kapitel in einer wirtschaftlich und gesellschaftlich besonders schwierigen Zeit auf. Es ist ein spannendes Experiment mit ungewissem Ausgang.